Abhijit V. Banerjee

Kann man mit Mikrokrediten das Problem der globalen Armut lösen?

Abhijit Banerjee gehört zu den Wirtschaftswissenschaftlern, die sich weigern, ihre Profession zu glorifizieren. Er ist mitverantwortlich für einen tiefgreifenden Wandel in der Art und Weise, wie Ökonomen Daten betrachten und verwenden, hat diverse Bestseller veröffentlicht und die höchste Auszeichnung auf seinem Fachgebiet erhalten. Für Banerjee entwickelt sich die Arbeit fortwährend weiter, wird immer besser und erreicht immer mehr Menschen. Er wird sich sicherlich in absehbarer Zeit nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen.

Foto von Abhijit V. Banerjee

Abhijit V. Banerjee

Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, 2019

Auf einen Blick

Geboren: 1961, Mumbai, Indien

Feld: Entwicklungsökonomie

Ausgezeichnet: Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, 2019 (anteilig)

Ausgezeichnetes Werk: Experimenteller Ansatz zur Bekämpfung der weltweiten Armut

Essen als Medizin: Abgesehen von acht wirtschaftswissenschaftlichen Büchern hat er außerdem ein Kochbuch mit dem Titel „Cooking to Save Your Life“ geschrieben

Das Paar, das gemeinsam Forschung betreibt: Er und seine Frau, Esther Duflo, mit der er schon lange zusammenarbeitet, wurden gemeinsam mit dem Preis ausgezeichnet und sind damit das sechste Paar, das den Preis verliehen bekam

Eine frische Sichtweise: Im Zuge seiner Promotion versuchte er, Wirtschaftstheorie, -modelle und -geschichten mit der Realität der Menschen in Indien in Verbindung zu bringen. Dies führte dazu, dass er sich in seiner beruflichen Karriere schwerpunktmäßig mit dem Thema Armut beschäftigte

Eine kleinere Gruppe für eine bessere Repräsentation der breiten Masse

Banerjee und seine Co-Preisträger Esther Duflo und Michael Kremer gelten als Pioniere der experimentellen Wirtschaftswissenschaften. Durch randomisierte kontrollierte Studien, ähnlich wie bei klinischen Studien im medizinischen Bereich, werden Experimente in kleinerem Rahmen durchgeführt, um bestimmte Aktionen zu einem sonst komplexen Thema durchzuführen.

„Häufig schauen wir lieber auf Millionen von Menschen als auf 68 oder so“, sagt Banerjee. „Es geht also nur um eine Größenordnung, die viele statistische Fragen und Fragen der Implementierung aufwirft, mit denen wir uns befassen müssen. Doch letztendlich ist die Philosophie recht ähnlich, nämlich dass wir sicherstellen wollen, dass wir die begünstigte Gruppe nicht auf eine andere Weise ausgewählt haben als die Nichtbegünstigten. Und deshalb kann man berechtigterweise argumentieren, dass, wenn wir einen Unterschied feststellen, dieser auf den kausalen Zusammenhang der jeweiligen Aktion zurückzuführen ist.“

Banerjee stimmt nicht immer mit dem verbreiteten Denken innerhalb seines Berufsfeldes überein, jedoch geht es um mehr, als nur darum, eine andere Denkweise zu vertreten. Er ist der Meinung, dass nicht viel in den Wirtschaftswissenschaften auch in die Realität passt.

„Eine gute Ökonomie muss sich mit der Realität in der Welt, in der wir leben, decken“, sagt er. „Ein Großteil der Wirtschaftswissenschaften lebt allerdings in einem Land, in dem die Menschen extrem berechnend und selbstbezogen sind und die Konsequenzen ihrer Handlungen sehr gut abschätzen können. Ich kenne nicht viele Menschen, die so sind.“

Gute Ökonomie muss sich mit der Realität in der Welt, in der wir leben, decken

Für Banerjee ist die Welt sehr viel komplexer. Und seiner Ansicht nach gibt es wesentlich mehr Argumente dafür, dass man versuchen sollte, Dinge zu tun, die im Interesse der Allgemeinheit und nicht im Interesse des Einzelnen liegen.

„Politische Maßnahmen können nur umgesetzt werden, wenn sie von der breiten Öffentlichkeit unterstützt werden, und ich denke, solange die Menschen wirtschaftliche Zusammenhänge nicht ausreichend verstanden haben, werden die politischen Maßnahmen immer falsch sein“, meint er. „Egal, wie viel Forschung wir betreiben bzw. wie viel Wissen wir uns aneignen, das Wissen hat keine Bedeutung, solange die Menschen nicht glauben, dass wir etwas Nützliches zu sagen haben.“

War diese Frage inspirierend für Sie?

Dann lassen Sie sich die neusten Nobel Perspectives senden.

Führen Mikrokredite zu Mikrogewinnen?

In den ersten Jahren ab 2000 wurde das Konzept der Mikrokredite explosionsartig populär. Durch die Vergabe kleiner Kreditbeträge an Menschen, die keine finanziellen Sicherheiten vorweisen konnten, sollte erreicht werden, dass sie mit diesen Krediten ein Unternehmen gründen oder ausbauen konnten, und wenn die Kredite zurückgezahlt waren, konnten sie in einen Pool fließen, der dazu diente, anderen Menschen aus der Armut zu helfen. Banerjee, obwohl er in diesem Konzept einen gewissen Nutzen sah, hinterfragte die Beurteilung solcher Programme. Allerdings lehnte die Mikrokreditbranche die Forderung ab, entsprechende Nachweise für ihre Wirksamkeit zu erbringen; sie vertrat die Auffassung, dass das Produkt naturgemäß eine Bereicherung sei.

„Schließlich gelang es uns, Mikrokreditinstitute davon zu überzeugen, eine randomisierte kontrollierte Studie durchzuführen“, sagt er. „Der erste wirklich überzeugende Beweis zu diesem Thema stammte aus unserer Studie. Er traf auf große Skepsis. Wir hatten nämlich festgestellt, dass die Vergabe von Mikrokrediten zumindest für den Durchschnittsbürger nicht zu einem gesteigerten Konsum führte.“

Obwohl Banerjee und seine Forscherkollegen damit nicht zeigen wollten, dass diese Programme nicht sinnvoll seien, ergab ihre Studie, dass die meisten Kredite für den Kauf von Produkten wie Kühlschränken und Fernsehern verwendet wurden und nicht für die Gründung oder den Ausbau eines Unternehmens.

„Dagegen ist nichts einzuwenden, und das Leben der Menschen war wahrscheinlich besser, weil sie Fernsehen hatten, aber es war nicht die transformative Zutat, die uns von dem Übel der Armut befreien kann. Sie verwendeten das Geld für andere Dinge und wurden dadurch nicht wohlhabender.“

Der zweite Schritt ihrer Studie bestand darin, die Empfänger von Mikrokrediten einige Jahre später erneut in Augenschein zu nehmen. Banerjee erklärte, dass sie eigentlich keine großen Erkenntnisse aus den Daten erwartet hatten, allerdings erlebten sie eine Überraschung.

„Wir stellten fest, dass es dem Durchschnittsbürger zwar immer noch nicht besser ging, dass aber fünf Prozent der Menschen, die ein paar Jahre lang Mikrokredite bekamen, sich doch irgendwie verbesserten“, sagt er. „Das Ergebnis war nicht wie ursprünglich behauptet universell. Es war sehr selektiv. Es handelte sich um Personen, die bereits ein Unternehmen besessen hatten.“

Dank dieser Erkenntnisse können Programme weiterentwickelt werden, sowohl in Bezug auf den Auswahlprozess als auch auf die Bewertung des Erfolgs.

Die Kosten des Klimawandels: Wer bezahlt die Rechnung?

Außerdem beschäftigt sich Banerjee mit dem Klimawandel und damit, wie dieser die Menschen in den Entwicklungsländern unverhältnismäßig stark belastet. Weltweite Temperaturrekorde werden regelmäßig gebrochen und erreichen unbewohnbare Werte, die in vielen Ländern die Landwirtschaft zerstören und verheerende Folgen für die Bevölkerung haben. Industriestaaten verursachen einen Großteil der Treibhausgasemissionen, die wiederum den Klimawandel vorantreiben und zu Hitzewellen, Dürreperioden und zerstörerischen Stürmen führen.

„Meiner Meinung nach sollte in der Klimadebatte vor allem darüber nachgedacht werden, was wir im Hinblick auf die Verlierer dieser Entwicklung tun müssen“, meint er. „Viele besonders arme Menschen werden auf der Strecke bleiben, wenn wir nichts gegen den Klimawandel unternehmen und es versäumen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Wenn wir die Energiepreise erhöhen, werden nicht die Wohlhabenden die wirklichen Leidtragenden sein. Es sind die Armen, die darunter leiden werden. Wie kann man sie nun entschädigen?“

Diese Frage stellen sich viele Menschen, Organisationen, Regierungen und NGOs. Tatsächlich wurde die Klimakompensation in die COP27-Verhandlungen im Jahr 2022 aufgenommen, und zum ersten Mal in der Geschichte arbeitet die UNO an einem Klimaabkommen und einem Klimafonds, mit denen dieses Thema in Angriff genommen werden soll. Die logistischen Aspekte, wie und in welchem Umfang, sind Bereiche, die noch weiter vertieft werden müssen.

„In den letzten 10 Jahren habe ich mich intensiv mit der Gestaltung von Programmen zur Armutsbekämpfung befasst. Es muss eine klare Abstimmung zwischen der Gestaltung von Klimaschutzmaßnahmen und der Frage geben, wie man die Menschen entschädigen kann“, sagt er. Der erste Teil ist laut Banerjee ein globaler Entschädigungsfonds, auf den die UNO aktiv drängt. Der zweite Teil besteht seiner Ansicht nach darin, die Opfer in den einzelnen Ländern zu ermitteln und schließlich Regelungen für die Vergabe von Transferleistungen zu finden.

„Selbst innerstaatlich wird das sehr komplex sein, denn jeder wird behaupten, ein Opfer zu sein, und man muss irgendwie Entscheidungen treffen. Ich denke, dass die Wissensbasis dafür auch etwas ist, das noch entwickelt werden muss.“

Viele besonders arme Menschen werden auf der Strecke bleiben, wenn wir nichts gegen den Klimawandel unternehmen. Wie kann man sie nun entschädigen?

Sich von der Intuition leiten lassen

Als Banerjee seinen Doktortitel erlangte, bemerkte er eine Kluft zwischen den Wirtschaftswissenschaften, die er studierte, und der Welt, in der er aufgewachsen war. Er begann zu untersuchen, wie man die Wirtschaftstheorie mit dem Leben der Menschen, die er kannte, in Verbindung bringen konnte, insbesondere mit den Menschen, die er in Indien in Armut leben sah, als er ein kleiner Junge war.

„Ich konnte langsam erkennen, wie man Geschichten erzählen könnte und was notwendig wäre, um Geschichten über diese Schicksale zu erzählen“, sagt er.

Dies war einer der Beweggründe für die Errichtung des Abdul Jameel Latif Poverty Action Lab (J-PAL), einer Organisation und eines Forschungszentrums, die sich auf die Armutsbekämpfung spezialisiert haben. J-PAL wurde im Jahr 2003 von Banerjee und Esther Duflo sowie Sendhil Mullainathan gegründet. Inzwischen haben sie Niederlassungen in der ganzen Welt.

„J-PAL wurde ins Leben gerufen, um eine bessere Politik im Kampf gegen Armut zu fördern, insbesondere durch den Einsatz von qualitativ guten Informationen. Ein etwas hochgestochener Satz, aber das ist genau das, was wir tun“, sagt er. „Wir versuchen, die Beteiligten zu unterstützen, Erkenntnisse zu generieren, wobei wir diese dann auch entsprechend zusammenfassen. Wenn die Erkenntnisse zeigen, dass es sich lohnt, Maßnahmen zu ergreifen, versuchen wir, mit den politischen Entscheidungsträgern zusammenzuarbeiten, um dies zu erreichen.“

Wenn die Erkenntnisse zeigen, dass es sich lohnt, Maßnahmen zu ergreifen, versuchen wir, mit den politischen Entscheidungsträgern zusammenzuarbeiten.

Laut Banerjee betreibt J-PAL als Organisation rund 1.100 aktive randomisierte kontrollierte Studien. Dabei handelt es sich um viele Experimente in einem kleineren Rahmen, die darauf abzielen, eine glücklichere, gesündere und wohlhabendere Welt zu schaffen. Fürs Erste macht es ihm nichts aus, dass ihm immer wieder die gleichen Fragen gestellt werden. Er freut sich darüber, dass es überhaupt zu Gesprächen kommt.

„Dies wird immer ein Bestandteil unseres Kampfes sein“, reflektiert er. „Ich habe gelernt, nicht auf meine eigene Intuition zu vertrauen. Das ist vermutlich das Wichtigste, was ich gelernt habe.“
 

Warum sollten Länder bessere Wege finden, um zu wachsen?

Hören Sie dazu die Meinung von Michael Spence und wie Länder nachhaltiges Wachstum generieren und dabei langfristig einen positiven Effekt erzeugen können.

Weitere Stories von Nobelpreisträgern

Foto von Esther Duflo

Wandelt sich die Ungleichheit in der Wirtschaft langsam?

Esther Duflo

Nobelpreisträger, 2019

Foto von Michael R. Kremer

Können Mikro-Experimente die Welt retten?

Michael R. Kremer

Nobelpreisträger, 2019

Foto von Sir Angus S. Deaton

Macht Reichtum glücklich?

Sir Angus S. Deaton

Nobelpreisträger, 2015

War diese Frage inspirierend für Sie?

Dann lassen Sie sich die neusten Nobel Perspectives senden.