Esther Duflo

Nobelpreis 2019 | Wandelt sich die Ungleichheit in der Wirtschaft langsam?

Esther Duflos Weg zeichnete sich bereits sehr früh ab, auch wenn ihr das erst während ihres Studiums bewusst wurde. Ihre Mutter war Kinderärztin und arbeitete bei Hilfsorganisationen, die sich für Kinder einsetzen, die in Armut leben oder Kriegsopfer waren. Nach ihrer Rückkehr aus Ländern wie Ruanda, El Salvador oder Haiti erzählte sie ihren Kindern immer von ihren Erlebnissen.

Portrait von Esther Duflo

Auf einen Blick

Titel: Professorin der Wirtschaftswissenschaften, Mitgründerin und Co-Direktorin des J-PAL am MIT

Nationalität: Französisch

Fachgebiet: Entwicklungs- und Sozialökonomie

Aktueller Schwerpunkt: Wie man die Politik in Bezug auf die wirtschaftliche Situation armer Menschen verbessern kann

Lieblingsreiseziel: Delhi, Indien – aber nicht im Winter

Familie: Ihre Schwester Annie arbeitet für eine gemeinnützige politische Organisation, deren Ziel die Bekämpfung von Armut ist

Zeiten ändern sich: 2019 erhielt Duflo als zweite Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Sie ist zudem die bisher jüngste Ökonomin, der die Auszeichnung verliehen wurde.

«Meinen Geschwistern und mir war sehr bewusst, in welch aussergewöhnlicher Situation wir uns befanden und wie es uns hätte ergehen können», sagt Duflo. «Uns wurde gezeigt, was Armut ist und dass man etwas dagegen tun kann.»

Duflo fühlte sich verantwortlich und begann zu handeln. Dieses Handeln trug dazu bei, dass sie heute zu den einflussreichsten Ökonomen zählt, die gegen die Armut auf der Welt kämpfen.

Liebesgrüsse aus Moskau

Duflos Interesse für Wirtschaftswissenschaften entwickelte sich während eines einjährigen Aufenthalts in Russland, zu einer Zeit, in der sich das Land dem Kapitalismus öffnete. Sie studierte Geschichte und bekam mit, wie viele Wirtschaftswissenschaftler die russische Regierung in dieser turbulenten Phase berieten. Die Erkenntnis, dass sich Ökonomen einerseits mit der dafür notwendigen Geduld und Fürsorge auf die akademische Arbeit konzentrieren und andererseits auch Einfluss auf die reale Welt nehmen können, brachte sie zu dem Schluss, dass sich damit das Beste aus beiden Welten vereinen lässt.

«Mir wurde plötzlich klar, dass sich Ökonomen in der tollen Lage befinden, tiefgreifend über Probleme nachdenken und dann ihre Erkenntnisse mit den politischen Entscheidungsträgern teilen zu können», sagt sie.

Seit dieser Zeit folgt sie genau diesem Ansatz und konzentriert sich auf Themen und Projekte, bei denen die Folgen politischer Massnahmen kurz danach sichtbar sind. Das Instrument ihrer Wahl sind dabei randomisierte kontrollierte Studien.

Keine reinen Zufallsergebnisse

Bei randomisierten kontrollierten Studien wird nach dem Zufallsprinzip ein Teil einer vordefinierten Gruppe oder Population ausgewählt, um neue Programme oder Methoden zu testen und die Ergebnisse dann mit dem Status quo zu vergleichen.

Duflo konzentriert sich dabei auf breiter Ebene auf das Thema Armut. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Not in armen Ländern wie Indien oder Ländern Afrikas. Ein Bereich, in dem sie sich umfassend und besonders leidenschaftlich engagiert hat, ist die Immunisierung.

Gemeinsam mit ihren Kollegen Abhijit Banerjee und Rachel Glennerster führte sie zwei Behandlungsprogramme in Indien durch und konnte damit nachweisen, dass bereits kleine Anreize für Eltern zur Immunisierung ihrer Kinder eine grosse Wirkung haben können. Das erste Programm galt der besseren Versorgung mit Vakzinen in zentralen Impfeinrichtungen. Dadurch sollte sichergestellt werden, dass ausreichend Impfstoff zur Deckung des lokalen Bedarfs zur Verfügung steht und richtig gelagert wird. Die zusätzliche Bereitstellung von Anreizen nach dem Zufallsprinzip führte zu einer noch höheren Anzahl von Immunisierungen. Dabei konzentrierten sie sich auch auf einflussreiche Personen – von Duflo Veränderungsagenten genannt – und soziale Anführer in den Dörfern, die die Fähigkeit haben, das Verhalten der Menschen um sie herum zu beeinflussen.

Die weitreichenden Effekte und Ergebnisse dieser durch Anreize geförderten Impfungen zählen zu den wirkungsvollsten und beeindruckendsten Forschungsresultaten ihrer Karriere.

Mehr Gleichberechtigung – eine Führungspersönlichkeit nach der anderen

Ebenso überraschend und unerwartet gut waren die Ergebnisse ihrer Forschung zu den Auswirkungen weiblicher Führung in Indien, sowohl in Bezug auf deren Leistungen als auch die daraus resultierenden Effekte.

Indien verfolgt eine Politik zur Förderung von Frauen in der Lokalpolitik, weshalb bei jeder Wahl eine bestimmte Anzahl an Ortschaften eine weibliche Vorsteherin wählen muss. Duflo und ihr Team verglichen diese Gemeinden mit anderen, die noch nie eine weibliche Person zum Ortsvorsteher gewählt hatten.

Sie stellten fest, dass sich nicht nur deren politische Bemühungen von denen ihrer männlichen Kollegen unterschieden. Weibliche Ortsvorsteher führten auch zu mehr Schulabschlüssen bei Mädchen, einer Angleichung der elterlichen Ambitionen für Jungen und Mädchen sowie einer gesteigerten Zielsetzung bei Teenagern für das spätere Leben und die Karriere.

«Wir haben versucht, den Menschen zu erklären, dass weibliche Führungspersonen genauso gut wie die männlichen handeln. Das machte jedoch keinen Unterschied», erklärte sie. «Informationen in Form eines Vortrags zu vermitteln funktioniert nicht. Die Menschen müssen es anscheinend selbst sehen.»

Informationen in Form eines Vortrags zu vermitteln funktioniert nicht. Die Menschen müssen es anscheinend selbst sehen.

Die Welt verändern – ein Thema nach dem anderen

In dem Bestreben, zwischen der Welt der Forschung und der Welt der Politik eine Brücke zu schlagen, gründeten Duflo, Banerjee und Sendhil Mullainathan das sogenannte Poverty Action Lab, ein Forschungszentrum zur Bekämpfung von Armut, welches kurze Zeit später in Jameel Poverty Action Lab (J-PAL) umbenannt wurde. Auch Rachel Glennerster stiess kurze Zeit später hinzu.

Was vor fast 15 Jahren als Zusammenschluss von acht Forschungszentren begann, ist heute ein Gebilde mit Büros auf nahezu jedem Kontinent und rund 200 Beschäftigten allein in Indien. Das J-PAL, das in der Regel eher als Netzwerk wahrgenommen wird, besteht aus drei Säulen. Die erste ist die Unterstützung der Forschung durch Hilfestellung bei der Besetzung von Forschungsassistenzstellen sowie beim Zugang zu Fördermitteln. Die zweite Säule umfasst Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten.

«Mit den Jahren haben wir die Durchführung der Forschung und der entsprechend einzuhaltenden Protokolle verbessert, um sicherzustellen, dass ethische Regeln befolgt und die wissenschaftliche Integrität gewahrt wird», sagt sie. «Dadurch wird die Qualität insgesamt verbessert und die Forschungsarbeit zu diesen Themen ein wenig erleichtert.»

Die dritte und krönende Säule ist laut Duflo, die Kommunikation der Forschungsresultate an die politischen Entscheidungsträger. «Wir arbeiten mit Politikern zusammen, um ihnen die Fragen zu entlocken, für die sie eine Lösung suchen, und sie im Umkehrschluss mit Erkenntnissen zu versorgen», ergänzt sie.

Wie bewirkt dies eine effektive Politik? Durch das Teilen von Forschungsergebnissen aus anderen Bereichen unterstützt das J-PAL Regierungen und internationale Organisationen dabei, die Zahl der wirkungsvollen politischen Massnahmen zu steigern und ineffektive Massnahmen zu reduzieren. Das geschieht in einer Vielzahl von Bereichen, angefangen bei Bildung und Gesundheit bis hin zu Umwelt und Politik. Ernährung ist beispielsweise ein Problem, bei dem Regierungen enorm von einem gegenseitigen Wissensaustausch profitieren könnten, insbesondere in Bezug auf Mikronährstoffe. Dieses Thema zählt zu den schwierigeren Herausforderungen in Duflos Arbeit.

«Das Hauptproblem der Menschen ist nicht das Fehlen von Kalorien, sondern das Fehlen von Nährstoffen», so Duflo. In Indien fehlen den Menschen viele Vitaminen, vor allem Eisen. Was Duflo hierbei besonders irritiert, ist die Tatsache, dass Eisenergänzungspräparate in Form von Tabletten oder Getreide- und Salzzusätzen leicht verfügbar sind, die Menschen diese jedoch nicht in ihre tägliche Ernährung aufnehmen.

«Die Technologie existiert, aber es ist schwierig, die Menschen dazu zu bringen, ihre Ernährungsgewohnheiten zu ändern», sagt sie. «Sie halten das einfach nicht für so wichtig. Das scheint ein grösseres Problem zu sein und ist bisher ungelöst.»

Die Macht der Wirtschaftswissenschaften

Duflo könnte mit dem von ihr gewählten Fachgebiet nicht glücklicher sein, auch wenn nicht alle Versuche die erhofften Ergebnisse bringen.

«Ich arbeite mit sehr netten Menschen zusammen an Problemen, die mir wichtig sind, und mit Methoden und Instrumenten, mit denen ich vertraut bin», so Duflo. «Was will ich mehr?»

Nach Ansicht von Duflo sind die Wirtschaftswissenschaften ein Feld, welches die meisten Kernthemen berührt, die den Menschen heutzutage Sorgen bereiten. Vom Handel und Wirtschaftswachstum bis hin zu Einwanderung und Ungleichheit – für all diese Bereiche lassen uns die Wirtschaftswissenschaften erkennen, wie Menschen miteinander interagieren und auf Anreize reagieren, die um sie herum vorhanden sind.

«Ich denke, die Bedeutung der Ökonomie liegt weniger in ihren Schlussfolgerungen als in ihren Ansätzen und jeder würde davon profitieren, sich zumindest die Argumente anzuhören, selbst wenn man anderer Meinung ist», sagt sie.

Die Wirtschaftswissenschaften schauen auf die Einflüsse miteinander verflochtener Situationen, indem sie untersuchen, wie Menschen auf Anreize reagieren und wie sie innerhalb von sowohl physischen als auch virtuellen Netzwerken agieren. Sie erforschen auch, wie sich Menschen angesichts bestimmter Präferenzen verhalten und wie diese Präferenzen durch die Welt, in der wir leben, und unsere Umgebung beeinflusst werden.

Die Art und Weise, wie wir den Menschen gegenüber die Welt und die Probleme darstellen, wird unsere Fähigkeit, diese Probleme zu bewältigen, enorm beeinflussen.

«Wir sind davon ausgegangen, dass Menschen bestimmte Ansichten haben und dass sie wie eine Art Funktion dieser Ansichten handeln», erläutert sie. «Die Erkenntnis, dass diese Ansichten in Wahrheit jedoch ein gewisses Mass an Willkür beinhalten, ist ziemlich wichtig, wenn es um Themen wie Fanatismus und Rassismus aber auch den Klimawandel geht. Denn wenn die eigenen Präferenzen nicht fest definiert sind, können sie auch beeinflusst werden. Und die Art und Weise, wie wir den Menschen gegenüber die Welt und die Probleme darstellen, wird unsere Fähigkeit, diese Probleme zu bewältigen, enorm beeinflussen.»

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