Jonathan Gregory
Head of UK Fixed Income

Vor etwa 40 Jahren, als ich im örtlichen Fliegerclub meine erste, lang ersehnte Stunde in einem Segelflugzeug hatte, habe ich zu aller erst einen Fallschirm in die Hand gedrückt bekommen. Damit wollte man wohl ziemlich Eindruck schinden – aber das hat nicht geklappt. Wir haben ganz kurz gezeigt bekommen, wie der Fallschirm verwendet wird, und während meiner gesamten Flugausbildung war er dann nicht mal ansatzweise nötig, und ich habe auch niemanden kennengelernt, der ihn je verwenden musste. Fast schon gedankenlos haben wir die Fallschirme vor dem Flug angelegt, weil es Vorschrift ist, und das war’s dann auch (viel wichtiger war, dass der ungepolsterte Holzsitz dadurch bequemer wurde). 30 Jahre später kommt es mir jedoch komisch vor, dass wir so wenig darauf geachtet haben, wie wir diese Fallschirme in einem Moment verwenden würden, der über Leben und Tod entscheiden könnte.

Die meisten Flieger-Anleitungen sind genauso sorglos wie ich. Dort heisst es: «Wenn Sie das Flugzeug im Flug verlassen müssen, ziehen Sie die Haube zurück, lösen Sie den Gurt und drehen Sie das Flugzeug auf den Rücken …» damit die Schwerkraft übernehmen kann. Erst jetzt, nachdem diese Zeiten lange vergangen sind, frage ich mich: Wenn man genug Kontrolle über das Flugzeug hatte, um seelenruhig einen halbe Fassrolle zu fliegen, wie sehr könnte es sich in einer solchen Situation um einen Notfall handeln, und warum sollte man springen müssen? Wenn ich davon überzeugt gewesen wäre, dass ein Sprung aus 5.000 Fuss Höhe mein Leben rettet, dann müsste ich schon ziemlich verzweifelt sein. Ein unkontrollierter, schwindelerregender, trudelnder und wahrscheinlich tödlicher Abstieg könnte mich davon überzeugen. Aber dann wäre der Ausstieg alles andere als einfach. Um Ihnen ein Gefühl dafür zu geben, stellen Sie sich vor, dass Sie sich in Ihrer Badewanne zurücklehnen und dann versuchen, herauszukommen, während sich alles um Sie herum dreht und Ihr Körper das Dreifache wiegt.1

Und dann war da noch ein weiteres Problem. Ein Fallschirm muss wirklich sorgfältig behandelt werden, auch wenn er nie benutzt wird. Wenn er feucht ist, weil er lange Zeit auf nassem Gras gelegen hat, oder wenn sich Ablagerungen darauf gebildet haben, weil er stundenlang im Regal (oder auf dem Boden) gelegen hat, kann seine Funktion tödlich beeinträchtigt sein. Deshalb ist es auch so wichtig, dass jeder Fallschirm mehrmals im Jahr professionell kontrolliert und ordentlich wieder gepackt wird. Ich nehme an, das es auch gemacht worden ist (schliesslich ist es Vorschrift), aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass es besonders interessant war. Im Club haben wir uns die Fallschirme geteilt und manchmal sind sie von mehreren Leuten am gleichen Tag verwendet worden. Tatsächlich schienen sie im Laufe des Sommers immer leichter zu werden, und man konnte etwas rascheln hören. Der Witz dazu ging so: Wenn du jemals springen musst und auf die Erde zustürzt, siehst du vereinzelte Fetzen aus mottenzerfressener Seide und ein paar vertrocknete Mäuse, die über deinem Kopf umherwirbeln.

Habe ich schon erwähnt, dass wir jung waren? Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist es wahrscheinlich nichts anderes als eine Verdeutlichung der unterschiedlichen Risikowahrnehmung, die mit dem Alter einhergeht.

Kontrollverlust

Politiker auf der ganzen Welt versuchen anscheinend, selbst eigenen Rettungssprung zu schaffen, aber in diesem Fall von der schwindelerregend hohen Inflation aus. Inzwischen sind seit der ersten Zinserhöhung etwa 15 Monate vergangen, und trotz 400 bis 500 Basispunkten mehr verlangsamen sich die Inflation, die Arbeitsmarktsituation und das Lohnwachstum in der Eurozone, im Vereinigten Königreich und in den USA nicht annähernd so stark wie erwartet. In gewisser Weise handelt es sich um ein schreckliches Spiegelbild der 10 Jahre nach der grossen Finanzkrise, in denen die Inflation trotz null (und sogar negativer) Leitzinsen, Billionen Dollar für Wertpapierkäufe und «Forward Guidance» hartnäckig unter ihrem Zielwert geblieben ist.

Ich bin mir zwar nicht sicher, aber ich denke, dass es die meisten Politiker damals genauso schockiert hat, welche politische Reaktion erforderlich ist, um die Inflation zu erhöhen, wie sie jetzt wahrscheinlich davon schockiert sind, wie hartnäckig die Inflation bleibt und wie schwer sie sich zurückdrängen lässt.2 Nach der lange viel zu geringen Inflation und der jetzt schon lange viel zu hohen Inflation werden sich vielleicht mehr Bürger (Wähler) sogar die Frage stellen, ob die Zentralbanken überhaupt die richtigen Ideen haben. Wenn das Ergebnis ständig hinter der Theorie zurückbleibt, könnten Sie dazu ermutigt werden, für sich selbst zu denken.

Das unmittelbare Problem für die Zentralbanken besteht also darin, dass sie ihren Volkswirtschaften mit höheren Zinsen möglicherweise weitere Schäden zufügen müssen, als noch vor wenigen Monaten erwartet worden war. Das ist ein äusserst schmerzhafter Kompromiss, der möglicherweise mit politischen Konsequenzen einhergeht. Und doch sieht die Situation in Grossbritannien derzeit genauso aus, wo die Kerninflation in letzter Zeit wieder angestiegen ist, obwohl die Bank of England einen Rückgang prognostiziert hatte. Ergebnis? Eine überraschende Anhebung um 50 Bp. auf 5 % im Juni, eine in den Marktpreisen enthaltene Schätzung von 6 % bis Dezember und die politische Debatte darüber, warum bereits strapazierte Haushalte den Preis für eine gefühlte Inkompetenz der Zentralbank zahlen sollten.

Auch hier bin ich mir wieder nicht sicher, aber ich kann mir vorstellen, dass andere Zentralbanken aufmerksam darauf achten werden, was in Grossbritannien passiert. Die US-Notenbank (Fed) und die Europäische Zentralbank (EZB) werden sicherlich am meisten damit zu tun haben, dass die Inflation trotz des aggressivsten Zinserhöhungszyklus seit 40 Jahren (zumindest in den USA) bis zum Jahresende deutlich über dem Zielwert liegt. Zwar hat der Ruf der Institute den sehr langen Zeitraum mit Inflationswerten unter dem Zielwert nach der globalen Finanzkrise relativ gut überstanden, allerdings dürfte eine langfristig zu hohe Inflation wohl nicht mit dem gleichen Wohlwollen behandelt werden.

Wahrscheinlich ist das die Botschaft hinter den eher restriktiven Aussagen, die im Juni von beiden Banken ausgegangen sind. Wenn die politischen Entscheidungen entweder für längere Zeit mit einer höheren Inflation leben können oder den unvermeidlichen wirtschaftlichen Schmerz akzeptieren, der mit weiteren Zinserhöhungen einhergeht, dann werden die Fed und die EZB sich wirklich ins Zeug legen, um die Menschen davon zu überzeugen, dass sie den zweiten Vorschlag bevorzugen.

Die Absprungzone

Die Theorie zur Durchführung des Sprungs und der tatsächliche Sprung sind jedoch vollkommen verschieden.

Die folgende Grafik des Institute of International Finance (IIF) haben wir schon einmal verwendet. Sie zeigt die globale Gesamtverschuldung in absoluten Zahlen und in Relation zur globalen Produktion (BIP). Sie umfasst Industrie- und Schwellenländer sowie Staats- und Unternehmensanleihen.

Lassen Sie sich nicht von der Abschwächung der grünen Linie täuschen, die zeigt, dass die Schulden im Vergleich zum BIP in letzter Zeit gesunken sind. Dabei handelt es sich nämlich um ein Artefakt der hohen nominalen Wachstumsraten nach der Pandemie. In Wirklichkeit liegt die Gesamtverschuldung im Verhältnis zum BIP, wie vom IIF berichtet, immer noch über den Werten vor der Corona-Pandemie. Die blaue Linie ist nichts anderes als der Verlauf der Fed Funds Rate. Damit soll verdeutlich werden, dass sich die Finanzierungskosten in US-Dollar in nahezu jedem Anleihemarkt befinden, und zwar entweder direkt über absolute Niveaus und Kreditspreads oder indirekt über Opportunitätskosten. (Oder gefällt Ihnen Ihre verlustträchtige, hochverzinsliche Anleihe von Kryptounternehmen noch, wenn zweijährige Staatsanleihen eine Rendite von fast 5% erreichen? Nein. Dachte ich mir.)

Abbildung 1: Globale Schuldenstände und Finanzierungskosten

Balkendiagramm mit globaler Verschuldung in absoluten Zahlen sowie globaler Verschuldung im Verhältnis zur globalen Produktion (BIP)
Quelle: Institute of International Finance, Bloomberg Finance L.P. Daten, Stand: 16. Juni 2023

Diese Grafik zeigt einen allgemeinen Anstieg der weltweiten Verschuldung seit 2003. Die weltweite Verschuldung hat 2022 einen Höchststand erreicht. Die grüne Linie (Schulden im Verhältnis zum BIP) ist in letzter Zeit vorsichtig zurückgegangen. Dieser Rückgang ist jedoch auf die sehr hohen nominalen Wachstumsraten nach der Pandemie zurückzuführen. Tatsächlich liegt die Gesamtverschuldung im Verhältnis zum BIP, wie vom IIF berichtet, immer noch über den Werten vor der Corona-Pandemie.

Wenn die Geldpolitik mit einer Verzögerung handelt, dann stehen der Weltwirtschaft noch deutliche Schmerzen an den Stellen bevor, wo es entsprechende Ansätze gibt. Und im Moment ist das, wie wir sehen können, fast überall der Fall.

Gefangen in den Trümmern

Vielleicht kommt hier noch ein hintergründiges Problem dazu. Seit der grossen Finanzkrise waren Regierungen und Zentralbanken entschlossen und in der Lage, verschiedene Schocks für Haushalte und Unternehmen auszugleichen: Doch stehen wir jetzt vor dem Problem, dass niemand weiss, wie man damit wieder aufhören kann. Der grösste Teil dieser Unterstützung stammte aus der direkten Kreditaufnahme von Regierungen oder ist auf die Anreize zur Kreditaufnahme dank niedriger Zinsen zurückzuführen. Jetzt, da ein grosser Teil dieser Unterstützung vor allem über höhere Zinsen aufgelöst werden muss, könnte die Frage aufkommen, ob die Politiker das wirklich durchziehen können.

Selbst der Internationale Währungsfonds hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die Zentralbanken die allgemeine Finanzstabilität nicht zugunsten einer sklavischen Hingabe zu einem Inflationsziel riskieren sollten.3

All diese Faktoren sind auf unserem jüngsten Forum für festverzinsliche Anlagen im Juni diskutiert worden. Wir gehen davon aus, dass eine Rückführung der Inflation auf die Zielwerte in den USA und Europa wahrscheinlich mit realen wirtschaftlichen Schmerzen einhergehen wird (obwohl sich das Ausmass je nach Region unterscheiden könnte). Ebenso sind wir der Meinung, dass die Zentralbanken zumindest vorerst beim Wort genommen werden sollten und dass die Marktbewertungen für eine oder zwei Zinserhöhungen im weiteren Verlauf dieses Jahres wahrscheinlich zutreffend sind (wenn auch eher fpr Grossbritannien). Dieser Schmerz nimmt momentan jedoch zu, und wir haben bereits einige Erschütterungen in der Weltwirtschaft erlebt, die nahelegen, dass wir nahe am Höhepunkt der Leitzinsen sind. Daher erscheinen die seit Mitte Mai verfügbaren höheren Renditen aus Risiko-Rendite-Sicht attraktiver, insbesondere am kurzen Ende der Renditekurve. Andererseits haben wir auf eine etwas vorsichtigere Haltung an den Kreditmärkten hingewiesen – langfristig höhere Zinsen führen bei Risikoanlagen zu möglichen Problemen.

Und so sieht einfach gesagt unser Basisszenario aus. Im Gegensatz zu einem Sprung aus 5.000 Fuss Höhe, bei dem man nur in eine plausible Richtung planen muss, ist die Weltwirtschaft deutlich komplexer. Andere Entwicklungen sind eindeutig ein Risiko, und dabei sind nicht zuletzt die Risiken für die Finanzstabilität zu nennen, wenn die Zentralbanken sich dazu entscheiden sollten, die höhere Inflation längerfristig hinzunehmen. Oder das Gegenteil dessen tritt tatsächlich ein, bei dem viel höhere Leitzinsen benötigt und auch eingeführt werden,sodass eine viel tiefere Rezession ausgelöst wird. Meiner Meinung nach halten sich diese Risiken rund um unser Basisszenario derzeit gerade so die Waage. Eine flexible Positionierung bleibt deshalb auf absehbare Zeit ein Erkennungsmerkmal für unseren Anlageansatz bei den Multi-Sektor-Strategien.

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