Wassily W. Leontief

Nobelpreis 1973 | Wie ist die globale Wirtschaft vernetzt?

Wassily Leontief hat einige wichtige geschichtliche Ereignisse miterlebt. Er war ein Junge, als sein Land den Tod von Lew Tolstoi betrauerte. Er war dabei, als Lenin vor dem Winterpalast zu einer Menschenmenge sprach. Als junger Akademiker beschloss er, Russland zu verlassen, um der Zensur zu entfliehen. So zog er schliesslich in die USA, um ein Projekt weiterzuentwickeln, das zu seinem wichtigsten Beitrag zur Wirtschaftswissenschaft wurde: die Input-Output-Analyse. Vor dem Zeitalter der Computer begann Leontief, den Fluss von Gütern und Dienstleistungen zwischen verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren aufzuzeichnen. Dies erwies sich als entscheidende Voraussetzung, um zu erforschen, wie Volkswirtschaften über globale Lieferketten miteinander vernetzt sind. Heute sind seine Modelle immer noch entscheidend für unser Verständnis der Wirtschaft.

Wassily W. Leontief

Wassily W. Leontief

Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, 1973

Auf einen Blick

Geboren: 1906, St. Petersburg, Russland

Gestorben: 1999, New York City, New York, USA

Fachgebiet: Makroökonomie

Ausgezeichnetes Werk: Entwicklung der Input-Output-Analyse, eine Methode für die systematische Analyse von Transaktionen unter Branchen in einer Volkswirtschaft

Chancen nutzen: Nach einem Bier mit einigen Chinesen in einer Berliner Kneipe wurde ihm eine Stelle als Berater im Eisenbahnministerium in Nanking angeboten

Reiseliebhaber: Er wählte den langsamsten Weg, den es in den 1920er Jahren gab, um nach China zu reisen, und bestieg in Marseille ein japanisches Schiff

Weitergabe des Erfolgs: Vier seiner Doktoranden sind ebenfalls Nobelpreisträger: Paul Samuelson, Robert Solow, Vernon Smith und Thomas Schelling

 

Mitten in einer Revolution

Leontief war erst zehn Jahre alt, als die russische Revolution ausbrach und das zaristische Regime durch eine provisorische Regierung abgelöst wurde. Damals lebte er in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg. Und selbst als alter Mann erinnerte er sich noch, wie er mit seinen Freunden auf der Strasse spielte und den Kugelwechsel beobachtete. Später schilderte er seine lebhaften Erinnerungen an den unerträglichen Hunger und eine Wohnung ohne Heizung.

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Was kann man aus dem Erlebnis einer Revolution lernen?

In politischer Hinsicht war es keine einfache Zeit für die Familie. Leontiefs Vater, ein Wirtschaftsprofessor, der in Deutschland studiert hatte, war nicht damit einverstanden, was sich in Russland abspielte, ebenso wie Leontief selbst. «Es gab grosse Spannungen», erinnerte er sich. «Ich gehörte definitiv zu denen, die protestierten. Ich protestierte mit anderen Studenten gegen die Zensur. Wir druckten Flugblätter und klebten sie nachts an die Wände der Stadt.»

Als leidenschaftlicher Leser machte Leontief seine ersten Schritte zu einer akademischen Karriere in turbulenten Zeiten. Mit einer Sondergenehmigung wurde er früher zum Universitätsstudium zugelassen und begann, Philosophie, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Er erwarb 1924 mit nur 19 Jahren einen Master-Titel.

Die ersten Schritte zu einer akademischen Karriere

Leontief erkannte bald, dass es ihm in seinem Heimatland nicht gelingen würde, eine wissenschaftliche Karriere aufzubauen. Die Zensur verbot die Publikation seiner wissenschaftlichen Artikel, weil er sich für Redefreiheit und institutionelle Autonomie einsetzte.

1925 verliess er das Land in Richtung Deutschland, bevor er schliesslich in den USA landete. Beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel engagierte er sich hauptsächlich für statistische Arbeiten zu Angebots- und Nachfragekurven. An der Harvard University schlug er einen anderen Weg ein. «Wenn man nur kleine Ausschnitte untersucht und irgendwelche abgehobenen statistischen Messgrössen nutzt, wird man die Wirtschaft nie verstehen», erklärte er. «Man muss die Fakten heranziehen. Ich habe eine Theorie entwickelt, wie man sie analysieren kann.»

Das Wirtschaftssystem eines Landes ist wie ein riesiger Computer. Und Computer stürzen häufig ab.

Wie beeinflussen sich verschiedene Branchen gegenseitig?

Leontiefs Ansatz war generell darauf ausgerichtet, die Frage zu beantworten, wie sich die Aktivitäten in verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren untereinander beeinflussen. «Mit Input-Output-Analysen versuchen wir zu beschreiben, was in einer Volkswirtschaft vor sich geht», erläuterte er. «Wir zeigen, wie Produkte verteilt werden.» Er war in der Lage – zum ersten Mal in der Wirtschaftsgeschichte – zu zeigen, wie all die verschiedenen Branchen miteinander verflochten sind, wie sie sich gegenseitig Produkte und Dienstleistungen verkaufen und voneinander kaufen.

Eine Volkswirtschaft ist wie ein riesiger Computer

«Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Wirtschaft, die aus zwei Sektoren besteht, Landwirtschaft und Industrie», schlug Leontief vor. «Ausserdem haben Sie Endkonsumenten, die Haushalte. Wenn Sie mehr an die Haushalte liefern müssen, müssen Sie den Output, also die Produktion steigern. Und Sie können sich ausrechnen, wie viele zusätzliche Produkte Sie brauchen. Es ist ein in sich geschlossenes System.»

Leontief war sich aber auch bewusst, dass seine Theorien falsche Antworten geben könnten, wenn sie für buchstäbliche Prognosen genutzt werden.

«Es gibt zeitliche Verzögerungen», stellte er klar. «Es ist ein Problem der Synchronisation. Das ist der Grund, warum der Grossteil der modernen Konjunkturzyklustheorie die Input-Output-Tabelle nicht exakt einbezieht. Es ist ein extrem kompliziertes System.»

Trotzdem ist sein Ansatz zu wirtschaftlichen Verflechtungen im Laufe der Zeit zunehmend wichtiger geworden. Bis heute ist dies eine Methode, die jeder Student der Wirtschaftswissenschaften lernen muss, und ein nützliches Instrument für Institute wie die Weltbank oder die Vereinten Nationen.

Wie kann man Entwicklungsländern helfen?

Der Grossteil von Leontiefs Arbeit war der Frage gewidmet, wie seine Forschungsergebnisse für Entwicklungsländer genutzt werden können. In den 1970er Jahren wurde er von den Vereinten Nationen gebeten, sein Fachwissen einzubringen. «UN-Vertreter kamen zu mir und baten mich, an einem Bericht mitzuwirken, in dem es darum ging, wie man weniger entwickelten Ländern helfen könnte», berichtet er. «Sie dachten, dass ich einfach einen netten Bericht schreiben würde, den sie irgendwo ablegen könnten. Und ich sagte nein.

Warum man das Ruder und den Wind braucht, um irgendwohin zu kommen

Die von ihm geleitete Studie trug den Titel «Die Zukunft der Weltwirtschaft» und schlug alternative Pfade für die zukünftige Entwicklung vor. Leontief zeigte, wie Industrieländer die Waffenproduktion reduzieren und einen Teil der eingesparten Ressourcen nutzen könnten, um Entwicklungsländern zu helfen. Die Basis für seine Analyse war, wie nicht anders zu erwarten, die Berechnung einer Input-Output-Tabelle.

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Obwohl Leontief als theoretischer Ökonom gilt, war er überzeugt, dass die Theorie einfach ein Instrument ist, um sich der Realität zu nähern, und sich viele Wirtschaftswissenschaftler zu wenig mit dem Sammeln von Daten befassten. «Statt Daten zu sammeln, stellen wir Vermutungen an», konstatierte er. «Statt Zahlen anzusehen, sagen wir ‹nehmen wir einmal an›. Damit gelangt man natürlich zu Ergebnissen, die nichts mit der Realität zu tun haben.»

Er war zwar ein Genie der Mathematik, aber Leontief liebte auch die Kunst, die Musik, das Reisen und das Lesen. Er war sein ganzes Leben lang eine politische Person, sorgte sich um Benachteiligte und hoffte, dass sich die internationalen Beziehungen verbessern würden. «Die Feindschaft zwischen Russland und Amerika spaltet die ganze Welt», bedauerte er. «Das ist einfach lächerlich.»

Auf die Frage, welchen Rat er geben würde, nachdem er ein so langes und fruchtbares Leben geführt hat, antwortete er: «Haben Sie keine Angst. Gehen Sie nicht zu viele Kompromisse ein und streben Sie nach dem, was Sie für richtig halten.» Zweifellos hat er seinen eigenen Rat ein Leben lang beherzigt.

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Was bedeutet Leontiefs wissenschaftliche Arbeit für uns?

«Leontief erhielt den Nobelpreis für die Schaffung von Input-Output-Modellen, eine Arbeit, die er in den 1930er Jahren begonnen hatte. Diese Modelle haben im Laufe der Zeit immer weiter an Bedeutung gewonnen und sind heute eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis der Weltwirtschaft.»

Paul Donovan
Global Chief Economist
UBS Wealth Management

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