Herr Hess, wo sehen Sie die grössten Stärken der Schweizer Industrie?
Hans Hess: Die Schweizer Industrie produziert keine Autos und eher wenig Konsumgüter wie etwa Nespresso-Kapseln. Unsere Stärke liegt in der Herstellung industrieller Maschinen und Anlagen. Überdies sind viele industrielle KMU sehr stark in der Entwicklung und Fertigung qualitativ hochwertiger Zwischenfabrikate und Komponenten, die in Maschinen und Anlagen in- und ausländischer Kunden eingebaut werden. In der Industrie konzentrieren sich besonders KMU oft auf Spezialitäten und Marktnischen – dies jedoch rund um den Globus. In diesen Marktnischen sind sie nicht selten Weltmarktführer und zeichnen sich durch hohe Innovation, Qualität, Effizienz und guten Service aus.
Schweizer Qualität bleibt demnach gefragt?
Hess: Ja, aber der Begriff hat in den vergangenen Jahren eine breitere Bedeutung als das traditionelle «Made in Switzerland» erlangt. Es gibt inzwischen eine Reihe von Attributen, die im Wettbewerb viel wichtiger sind. Wer glaubt, allein das Herkunftslabel «Swiss Made» garantiere ihm eine gesicherte Zukunft, der fährt eine Hochrisikostrategie. Heute interessiert es nur noch die wenigsten Industriekunden im Ausland, ob etwas in der Schweiz hergestellt wurde oder nicht. Was sie wollen, sind Innovation, Spitzenqualität, hohe Servicebereitschaft und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis.
Sind die Kunden noch bereit, für überdurchschnittliche Qualität auch mehr zu bezahlen?
Christine Novakovic: Die Bereitschaft nimmt zusehends ab, weil die ausländische Konkurrenz nicht schläft. Deshalb müssen sich Schweizer Exporteure vermehrt darum bemühen, ihre Produktlieferungen mit darauf zugeschnittenen After-Sales-Dienstleistungen abzurunden oder zu erweitern. Angenommen, eine bestimmte Komponente geht kaputt. Dann ist es heute entscheidend, dem betroffenen Kunden – gleich, ob sich dieser in China, Dubai oder Brasilien befindet – möglichst schnell und unbürokratisch ein entsprechendes Ersatzteil liefern zu können.
Hess: Früher war es normal, dass eine Firma, die ein qualitativ herausragendes Produkt anbot, am Markt zugleich einen deutlich höheren Preis durchsetzen konnte. Insofern findet derzeit eine Art Paradigmenwechsel statt: Schweizer Unternehmen müssen zwar weiterhin in der Lage sein, innovative, qualitativ hochstehende Produkte auf den Markt zu bringen. Sie müssen diese aber auch zu wettbewerbsfähigen Kosten fertigen können. Unternehmen, denen beides gelingt, haben im globalen Wettbewerb die besten Karten und erwirtschaften zudem noch gute Margen.
Gerät der Produktionsstandort Schweiz damit nicht zwischen Hammer und Amboss?
Novakovic: Fähige Unternehmer müssen in diesem Umfeld über sich hinauswachsen und bereit sein, gegebenenfalls völlig neue Wege zu gehen, indem sie sich etwa neue Märkte erschliessen und dafür vielleicht auch einmal Lehrgeld bezahlen. Eine zentrale Rolle spielen die Kundenbedürfnisse entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Vereinfacht gesagt, konnte man früher dem Kunden ein Produkt liefern und bekam im Gegenzug dafür sein Geld. Heute sind Unternehmer gefordert, sich weitaus intensiver mit dem Geschäftsmodell ihrer Kunden zu befassen und die eigenen Prozesse darauf abzustimmen. Um einen Abnehmer optimal zufriedenzustellen, muss die Integration in dessen Wertschöpfungskette möglichst schnell und reibungslos funktionieren.
Muss ein Unternehmer also vermehrt auch die Abnehmer und Vertriebswege seiner Kunden im Auge behalten?
Hess: Unbedingt. Je besser ein Unternehmen die Bedürfnisse seiner Kunden kennt und darauf eingeht, desto gefragter sind seine Produkte und Dienstleistungen. Genau das zeichnet viele Schweizer Firmen aus: Sie reagieren flexibel und können daher Kundenwünsche schnell, kreativ und lösungsorientiert erfüllen. Um das zu gewährleisten, müssen die Unternehmen aber erst einmal verstehen, welche Leistungen in der Wertschöpfungskette eines Kunden überhaupt wichtig sind.
Wie geht das in der Praxis?
Novakovic: Viele Abnehmer von Schweizer Produkten zielen heute darauf ab, Weiterentwicklungen gemeinsam mit ihren Schweizer Zulieferern voranzutreiben. Sie wissen um deren ausgeprägte Innovationskraft und das stetige Streben nach Verbesserung. So arbeiten die Entwicklungsteams auf Lieferanten- respektive Kundenseite immer öfter direkt zusammen. Solche Kooperationen, die in erster Linie die spezifischen Bedürfnisse eines Abnehmers zum Inhalt haben, führen zu einer überdurchschnittlichen Kundenbindung. Letztlich geht es nicht mehr nur um den Verkauf eines Produkts, sondern um eine Partnerschaft, die dem Kunden das Leben erleichtert.
Wie stellt ein Schweizer Anbieter sicher, dass sich seine ausländischen Zulieferer an die gewünschten Qualitätsstandards halten?
Hess: Ein Unternehmer muss sich sorgfältig ein oder zwei geeignete Partner aussuchen und diese mit der Zeit so weit bringen, dass sie die erforderlichen Qualitätsstandards selbstständig beherrschen. Das erreicht er am besten durch eine enge Zusammenarbeit mit seinen Lieferanten. Und stellt sicher, dass Leistungsmerkmale wie Qualität, Schnelligkeit und Liefertreue, die der Kunde von einem Schweizer Anbieter erwartet, die gesamte Wertschöpfungskette durchziehen. Das erfordert langfristige strategische Partnerschaften.
Das tönt wie Customer Relationship Management mit umgekehrten Vorzeichen.
Hess: Genau, man nennt es daher auch Supply Relationship Management. Gelingt es einem Unternehmen nicht, seine Zulieferer auf die eigenen Qualitätsstandards einzuschwören, dann reisst die Kette irgendwo und der Kunde ist mit der gebotenen Leistung nicht mehr zufrieden.
Verfügen auch KMU über genügend Know-how und die nötigen personellen Ressourcen, um da mitzuhalten?
Novakovic: Im Prinzip ist es, als würde ein Schweizer KMU mit seinen inländischen Kunden eine echte Partnerschaft anstreben, um sich in deren Wertschöpfungskette einzufügen. Heute gilt dies auch auf der Beschaffungsseite, nur sind die Rollen vertauscht: Das Schweizer KMU ist hier nicht der Lieferant, sondern der Kunde, der gewährleisten muss, dass er von seinem ausländischen Partnerunternehmen die erforderliche Qualität geliefert bekommt.
Das klingt einleuchtend. Gleichwohl tun sich viele KMU-Betriebe mit den neuen Anforderungen zunehmend schwer.
Novakovic: Als Bank beobachten wir, dass sich manche KMU genau in dem Moment schwertun, in dem sie gezwungen sind, ins Ausland zu expandieren, um beispielsweise vor Ort eine eigene Vertriebs- oder Produktionsgesellschaft zu gründen. Weil sie relativ klein sind, fällt es ihnen oft nicht leicht, im Ausland einen geeigneten Finanzdienstleister zu finden. Bei den meisten internationalen Banken fallen sie aufgrund ihrer geringen Grösse durch die Maschen. Deshalb setzt UBS alles daran, in den wichtigsten Auslandsmärkten mit ihren Basisdienstleistungen präsent zu sein. So müssen sich Schweizer KMU zumindest in Sachen Finanzierung nicht den Kopf zerbrechen, wenn sie ins Ausland gehen.
Wo liegen, abgesehen von Finanzierungsfragen, die grössten Minenfelder für kleine und mittlere Firmen?
Novakovic: Erfahrungsgemäss haben diejenigen Unternehmer die meisten Schwierigkeiten, welche die Veränderungen in ihrem Umfeld nicht wahrhaben wollen und deswegen zu lange zögern, um nötigenfalls auch drastische Massnahmen zu ergreifen. Im Übrigen kann die Einschätzung, bei den gegenwärtigen Entwicklungen handle es sich nur um vorübergehende Phänomene, für ein Unternehmen fatale Folgen haben. Wir erleben heute eine Trendwende, die sich nicht mehr umkehren lässt. Um auch künftig erfolgreich zu sein, müssen sich gerade kleine und mittlere Unternehmen öffnen und geeignete Kooperationspartner suchen. Allein werden es viele unter den neuen Rahmenbedingungen nicht schaffen.
«Die Unternehmen müssen verstehen, welche Leistungen in der Wertschöpfungskette ihrer Kunden wichtig sind.»
Hans Hess, Präsident Swissmem
«Wir erleben heute eine Trendwende, die sich nicht mehr umkehren lässt.»
Christine Novakovic, Leiterin UBS Firmen- und institutionelle Kunden und Investment Bank Schweiz
«Die wenigsten Industriekunden im Ausland interessiert es, ob etwas in der Schweiz hergestellt wurde oder nicht.»
Hans Hess, Präsident Swissmem