«Die Pferde verstehen mich und ich verstehe die Pferde.» Ursula Kälin bei der Arbeit im Einsiedler Marstall, dem ältesten Gestüt Europas. Bilder: Jos Schmid
«Die Pferde verstehen mich und ich verstehe die Pferde.» Ursula Kälin bei der Arbeit im Einsiedler Marstall, dem ältesten Gestüt Europas. Bilder: Jos Schmid

Pferden gegenüber empfinde sie ein Gefühl tiefer Verbundenheit, ja sogar Liebe, erklärt Ursula Kälin. Mitunter habe sie sich schon gefragt, ob sie nicht «ein bisschen verrückt» sei, bemerkt die 46-jährige Pferdefachfrau mit einem verschmitzten Lächeln. «Die Pferde verstehen mich und ich verstehe die Pferde.»

Aufgewachsen im Wallfahrtsort Einsiedeln, fühlte sich Kälin schon als Kind magnetisch von den majestätischen und oftmals scheuen Vierbeinern angezogen. Nach Schulschluss sei sie regelmässig zu den Pferdestallungen hinter dem Kloster hinaufgerannt. «Wenigstens müssen wir unser Ursi nicht lange suchen», hätten ihre Eltern damals gescherzt. «Wir wissen ja, wo sie ist.»

Der Marstall der Benediktinerabtei in Einsiedeln – 1064 erstmals urkundlich erwähnt – gilt als das älteste Gestüt Europas. Seit mehr als tausend Jahren werden hier am Fusse der Alpen die beliebten «Einsiedler»-Pferde gezüchtet. Von den Patres als Arbeits- und Reittiere genutzt, wären der Bau und der Betrieb der riesigen Klosteranlage ohne die Mithilfe der ebenso robusten wie gutmütigen Warmblüter kaum denkbar gewesen.

Wie Quittungen aus dem 16. Jahrhundert belegen, waren die Innerschweizer Klosterpferde auch in Oberitalien sehr begehrt, wo sie wegen ihrer Anmut und Charakterstärke «Cavalli della Madonna» genannt wurden. «Der ‹Einsiedler› hat einen enorm starken Willen, er möchte mitmachen und helfen», bestätigt Kälin.
 

Erfolg als Quereinsteigerin

Geld für Reitstunden war in der sechsköpfigen Familie, in der die heutige Reitlehrerin aufwuchs, keines vorhanden. Also musste sich Kälin ihren grössten Wunsch selbst erfüllen. «Tagelang habe ich im Stall mitgeholfen, um vielleicht alle 14 Tage mit einem der Pferde ausreiten zu dürfen», erinnert sie sich.

Erfolg als Quereinsteigerin

Nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit entschied sich Kälin zunächst für eine Lehre als Herrencoiffeuse – nicht zuletzt weil ihr Lehrmeister Pferde hielt, auf denen sie nach der Arbeit reiten durfte. Als ihr bewusst wurde, dass sie sich mit ihrem bescheidenen Lohn wohl nie ein eigenes Reitpferd würde leisten können, begann Kälin mit 21 Jahren eine Zweitlehre als Telefonistin bei der heutigen Swisscom.

Ihre Freizeit widmete sie weiterhin ihrem heiss geliebten Hobby, dem Pferd: Spring- und Dressurlizenz, Jugend-und-Sport-Leiterin, Vereinstrainerin Pferdesport, Pferdefachfrau EFZ usw. Nach 13 Jahren und zahllosen Umstrukturierungen beim staatlichen Telekomriesen war Kälin ihre Büroarbeit derart verleidet, dass sie die gut bezahlte Festanstellung an den Nagel hängte.

Dann stiess sie auf eine Zeitungsannonce, in der das Kloster Einsiedeln nach einem externen Betriebsleiter für sein altehrwürdiges, aber unrentables Gestüt suchte. Kälin nahm ihren ganzen Mut zusammen, bewarb sich als mit den lokalen Gepflogenheiten vertraute Quereinsteigerin – und erhielt den Zuschlag der Patres. Dank eines Bankkredits konnte sie 2003 die Mehrheit der Marstall Kloster Einsiedeln GmbH übernehmen, samt 22 Hektaren landwirtschaftlicher Nutzfläche. Seither führt Kälin den Betrieb als eigenständige Unternehmerin.

«Pferde sind beseelte Wesen, die einen kennen und zu Gefühlen fähig sind.»

Ursula Kälin

Beseelte Wesen

«Entscheidender als die Rasse ist, wie man Pferde hält und wie man mit ihnen umgeht.» Am wohlsten fühlen sie sich in der Gruppe ― und sie folgen gerne einem Leittier.
«Entscheidender als die Rasse ist, wie man Pferde hält und wie man mit ihnen umgeht.» Am wohlsten fühlen sie sich in der Gruppe ― und sie folgen gerne einem Leittier.

Zu den 13 «Einsiedlern» im Besitz der GmbH gesellen sich 27 Pensionspferde unterschiedlicher Provenienz. «Schlussendlich kommt es gar nicht so sehr auf die Rasse oder den Stammbaum eines Pferdes an», erklärt Kälin. «Entscheidender ist, wie man es hält und mit ihm umgeht.» Pferde sollten stets in der Gruppe gehalten werden und so oft wie möglich an die frische Luft kommen, lauten zwei ihrer wichtigsten Betreuungsgrundsätze. «Es sind beseelte Wesen, die einen kennen und zu Gefühlen fähig sind. Wenn ich frühmorgens in den Stall komme, begrüssen sie mich mit einem sanften Wiehern. Es sind solche Momente, die mich hier halten – auch wenn es nicht immer einfach ist.»

Eine Goldgrube ist das klösterliche Gestüt mit Sicherheit nicht. Und dies, obwohl Kälin das Angebot in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut hat: Reitstunden, Reitlager für Kinder, spezialisierte Kursangebote für Reiter, Ausbildung junger Pferde, Pensionspferdehaltung und Führungen. Allein die Aufzucht eines dreijährigen Pferdes verschlingt 10 000 bis 15 000 Franken, wobei die Ausbildungskosten noch nicht einmal berücksichtigt sind. Dazu kommen Kosten für den Hufschmied, Besuche des Tierarztes und die notwendigen Versicherungen.
 

Staatlicher Zustupf

Sehr willkommen ist die Tatsache, dass der Landwirtschaftsbetrieb des Marstalls, der heute vier Festangestellte und drei Lehrlinge beschäftigt, vom Bund mit rund 60 000 Franken pro Jahr subventioniert wird. «Ohne landwirtschaftliche Direktzahlungen wäre unsere Existenz gefährdet», räumt Kälin ein.

«Unter dem Strich verdient man hier auch nicht mehr als in einem Coiffeursalon», stellt die Pferdefachfrau fest. «Würde der Marstall mehr Geld abwerfen, würde ich dieses sofort in die Löhne meiner Angestellten und in neue, massgeschneiderte Sättel für unsere Schulpferde investieren.» Trotzdem hat Kälin ihren Entscheid noch keine Sekunde bereut: Die Arbeit mit Tieren liege ihr mehr als mit Menschen, schmunzelt die Pferdefreundin. «Bei den Pferden kann ich mich besser durchsetzen. Nur zu gerne würde ich diese Gabe auch auf meine Beziehungen zu Menschen übertragen.»

Cavalli della Madonna

Die Einsiedler Klosterpferde, in Italien auch als «Cavalli della Madonna» bekannt, sind geduldige, lernwillige und leistungsbereite Allrounder. Genetisch gehen die «Einsiedler» des Marstalls auf drei Zuchtlinien zurück.

Juwel barocker Baukunst

Der Einsiedler Marstall zählt drei Stallungen, darunter der 1767 eingeweihte Barockstall mit Kreuzgewölben und Bogenfenstern – ein architektonisches Juwel erster Güte.

Pferd, Esel & Co. in der Schweiz

  • 75 198 Pferde
  • 27 813 Ponys, Kleinpferde, Esel, Maultiere und Maulesel
  • 150 verschiedene Rassen
  • 38% Heim-, 62% Nutztiere
  • 27 274 Besitzer
  • 17 454 Betriebe
  • 65 – 70 Millionen Franken Direktzahlungen für Pferde und Pferdenutzflächen
  • 2 Millionen Franken Beiträge an die Pferdezucht