Wege zur Rettung der Altersvorsorge
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Das Schweizer Vorsorgemodell bröckelt. Ist es noch richtig, AHV und Pensionskassen als Säulen, also Sinnbilder für Stabilität, zu bezeichnen?

Man kann durchaus auch eine optimistischere Perspektive einnehmen. Säulen sind auch etwas, worauf man aufbaut. In der Schweiz haben wir in der Vergangenheit etwas Grosses erschaffen. In der Altersvorsorge werden die Säulen unserer Zeit zwar nicht mehr gerecht, doch sie sind etwas, worauf wir in Zukunft wieder aufbauen können.

Welche Wege gibt es, um die sich abzeichnende Finanzierungslücke der AHV zu stopfen?

Im Grunde genommen gibt es vier Wege. Erstens kann man die Jungen mehr zahlen lassen. Zweitens kann man auch die Rentner die Last mittragen lassen. Damit würde auch der Wohlstand der Rentner gesenkt, während beim ersten die Jungen einseitig Einbussen hinnehmen müssten. Drittens gibt es die Möglichkeit, das Rentenalter anzuheben beziehungsweise ein steigendes Rentenreferenzalter einzuführen; zusammen mit mehr Flexibilität bei der Pensionierung. So bleibt der Wohlstand aller Generationen erhalten. Der vierte Weg schliesslich besteht darin, die Effizienz des Staates zu verbessern.

Was der Staat besitzt, sollte aus einer Shareholder-Perspektive betrachtet werden.

Das müssen Sie etwas genauer ausführen.

Es geht um die Qualität der Bilanzführung, wie also Aktiven und Passiven des Staates dargestellt werden. Vereinfacht gesagt: Der Schweizer Staat führt heute quasi eine Milchbüchleinrechnung. Mit IPSAS, dem führenden Rechnungslegungsstandard für Staaten, gibt es deutlich modernere und transparentere Methoden der Staatsbilanzierung, als wir sie in der Schweiz nutzen.

Und wie wirkt sich mehr Transparenz in der Staatsbilanz auf die Altersvorsorge aus?

Kennt man nicht nur die Schulden des Staats besser, sondern hat zudem ein fundiertes Bild über dessen Vermögen, könnten Schulden und Vermögen besser bewirtschaftet werden und Gewinne für die Finanzierung der Staatsausgaben – auch der Altersvorsorge – genutzt werden. Und dies ohne Verlust von Wohlstand. Konkret müsste das, was der Staat besitzt, aus einer Shareholder-Perspektive betrachtet werden. Denn eigentlich ist der Staat wie eine ewige, gemeinnützige Genossenschaft, die allen Bürgern zu gleichen Teilen gehört.

Damit könnte der AHV geholfen werden. Müsste aber nicht auch die zweite Säule in die Überlegungen einbezogen werden?

Durchaus. Dennoch kommt dem Staatshaushalt bei der Altersvorsorge eine fundamentale Bedeutung zu. Zumal der Staat nicht nur hinter der AHV steht, sondern aufgrund des Obligatoriums auch hinter der zweiten Säule. Zu beachten gilt es auch, dass es eine weitere demografisch bedingte Finanzierungslücke gibt, und zwar bei der Gesundheit und Pflege. Dort sind die Lücken mindestens so gross wie bei der AHV. Da der Staat ohnehin für beide diese Sozialsysteme geradestehen muss, lässt sich eine Lösung nur über eine Gesamtbetrachtung und unter Einbezug der Staatsbilanzierung finden.

Die Angleichung des Rentenalters der Frauen ist ein Schritt in Richtung Generationengerechtigkeit.

Der Bundesrat hat einen Vorschlag gemacht, wie er die Finanzierung der AHV anpassen will. Was halten Sie davon?

Angesichts der grossen Dringlichkeit – jetzt kommen die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer-Generation ins Pensionsalter – finde ich es schade, dass man sich bei der AHV 21 nicht mehr zugetraut hat, insbesondere beim Rentenalter. Dieses ist seit 1948 nicht angestiegen, obwohl Neurentner fast doppelt so lange Renten beziehen, wie Rentner damals. Zugegeben, es ist eine Positionierung, mit der Politiker riskieren, an Beliebtheit zu verlieren. Jedoch muss die Politik aus meiner Sicht jetzt eine meinungsbildende Rolle spielen und bereit sein, der Bevölkerung die Herausforderungen darzulegen.

AHV 21 zieht Gelder aus der Bundeskasse und der Mehrwertsteuer zur Finanzierung hinzu. Und Frauen sollen länger arbeiten. Wie sind diese Massnahmen zu werten?

Die Angleichung des Rentenalters der Frauen ist ein Schritt in Richtung Generationengerechtigkeit. Die anderen Massnahmen dagegen belasten einseitig die jungen und zukünftigen Generationen und nehmen dem Staat in Zukunft Mittel und damit Handlungsspielräume weg.

Und wie wirken sich die Massnahmen auf die zweite Säule aus?

Für die zweite Säule gilt grundsätzlich, dass sie von einer Flexibilisierung und Erhöhung des Rentenreferenzalters profitieren würde. Daher wirkt sich die vorgeschlagene Anhebung des Rentenalters der Frauen positiv aus – sofern natürlich die Vorteile nicht durch Ausgleichsmassnahmen wieder wettgemacht werden. Die anderen Massnahmen dagegen würden sich eher negativ für die Institutionen der zweiten Säule auswirken, da die Massnahmen den Unternehmen und Privathaushalten, welche die zweite Säule finanzieren, Mittel entziehen.

Die Erwartung, bis zum Ende des Erwerbslebens einen hohen Lohn zu erhalten, ist realitätsfremd.

Die Anhebung des Rentenalters ist also essentiell, um die Finanzierung der Altersvorsorge wieder zu sichern.

Eindeutig. Wichtig ist, dass die Anhebung des Referenzalters richtig verstanden wird. Die Idee dahinter ist nicht, dass jeder und jede bis 70 in dem Job bleiben muss, der 40 Jahre lang ausgeübt wurde. Ich sehe das Ganze als Flexibilisierung, als neues Modell. Mit 50 oder 55 überlegt man sich, was man die nächsten 15, 20 oder 25 Jahre machen will. Das kann eine Arbeit sein, bei der andere Elemente betont werden als bisher. Eine Arbeit, bei der man etwas macht, das einem wichtig ist. Vielleicht wechselt man die Branche; oder man reduziert das Pensum. Und natürlich braucht es auch eine Flexibilität beim Lohn.

Flexibilität beim Lohn heisst weniger Lohn, oder?

Die Erwartung, dass man bis zum Ende des Erwerbslebens einen hohen Lohn erhält und auch in dieser Lebensphase noch gross spart, ist realitätsfremd. Vielmehr sollen diese Jahre dazu dienen, die Lebenskosten zu decken, weiterhin in die Pensionskasse einzuzahlen und eben zu verhindern, dass man frühzeitig AHV- und Pensionskassenrente beziehen muss.

Eine solche Veränderung einer gesellschaftlichen Grundhaltung kann aber nicht über ein Gesetz vorgeschrieben werden.

Nein, das nicht. Man sieht aber in Ländern, die das Rentenreferenzalter angehoben haben, dass die Kultur den Gesetzen durchaus folgt. Die Unternehmen beschäftigen die Mitarbeitenden länger und das effektive Rentenalter steigt. In Japan und Korea wird im Schnitt schon jetzt bis 70 gearbeitet. Davon sind wir weit entfernt. Manchmal muss der Staat eben eine Vorreiterrolle spielen. Ich sehe auch eine Chance: Der demografische Knick mit der Pensionierung der Babyboomer wird zu einem Fachkräftemangel führen, auf den man mit neuen Arbeitsmodellen durchaus eine Antwort bereit hätte.

Dr. Veronica Weisser

Dr. Veronica Weisser ist Ökonomin und seit 2006 beim UBS Chief Investment Office GWM tätig. Dort leitet sie das Team für makroökonomische Analysen, Branchenstudien und Studien zur Demografie und Altersvorsorge. Weisser hat in Köln, Paris, Barcelona und Bern studiert und ist in Südafrika aufgewachsen.

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