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Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum verschiedene Richter völlig unterschiedliche Urteile für das gleiche Verbrechen fällen oder warum Ärzte unterschiedliche Diagnosen für denselben Patienten ausstellen? Die Antwort liegt im Konzept des „Noise“, wie Daniel Kahneman in seinem Bestseller „Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können“ erklärt. Die Analyse des Wirtschaftsnobelpreisträgers hinterfragt konventionelles Wissen und liefert praktische Strategien für die Reduzierung von Noise und die Verbesserung der Konsistenz und Verlässlichkeit unserer Entscheidungen.

Was ist der Unterschied zwischen Noise (Rauschen) und Bias (Verzerrung)?

Eine Beurteilung ist laut Kahneman wie eine Messung. Sie beinhaltet die Zuordnung eines Wertes zu einem Objekt auf einer Skala, sei es eine Wahrscheinlichkeit, eine Grösse oder eine gefällte Entscheidung. Was aber Beurteilungen von anderen Formen der Messung unterscheidet, ist die damit einhergehende inhärente Unsicherheit. Noise bezieht sich auf die Inkonsistenz der menschlichen Beurteilung, die auch dann auftritt, wenn Menschen mit denselben Informationen konfrontiert sind.

„Um Noise von Bias zu unterscheiden, muss man eigentlich definieren, was eine Beurteilung wirklich ist“, meint er. „Es gibt Schwankungen und diese Schwankungen werden als Noise bezeichnet. Und der durchschnittliche Fehler ist der Bias, also die kognitive Verzerrung.“

„Ich sollte hinzufügen, dass es ein wirkliches Problem mit den Begriffen Bias und Noise gibt“, fährt er fort. „Sie werden mit vielen unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Wenn wir zum Beispiel über den psychologischen Bias sprechen, denken wir manchmal an den Mechanismus in unserem Verstand, der Fehler produziert, und das ist nicht das Gleiche wie der durchschnittliche Fehler. Ebenso ist Noise ein fürchterliches Wort, das wir im Englischen sowohl für physischen Lärm als auch für jede Art von Unsicherheit verwenden.“

Laut Kahneman kann Noise genauso schädlich für eine Beurteilung sein wie Bias oder systematische Fehler. Während Bias oft leichter zu erkennen und anzugehen ist, kann Noise unbemerkt bleiben und zu unberechenbaren und inkonsistenten Ergebnissen führen. Deshalb ist es wichtig, über die Rolle von Noise in der Entscheidungsfindung Bescheid zu wissen und Massnahmen zu ergreifen, um Noise zu reduzieren.

Diese Schwankungen werden als Noise bezeichnet. Der durchschnittliche Fehler ist der Bias.

Welche internen und externen Kräfte beeinflussen unsere Entscheidungen?

Kahneman nennt Beispiele für Noise in der Praxis, wie Richter, die völlig unterschiedliche Urteile für ähnliche Verbrechen fällen, oder Ärzte, die unterschiedliche Diagnosen für denselben Patienten ausstellen. Er betont ebenfalls die Rolle von Noise bei Leistungsbeurteilungen, bei denen verschiedene Manager ihren Mitarbeitenden äusserst unterschiedliche Bewertungen geben können, obwohl sie auf den gleichen Kriterien basieren. Das drastischste Beispiel für ihn war jedoch das Justizbeispiel.

„Es wurde eine umfangreiche Untersuchung durchgeführt, bei der mehreren Richtern der gleiche Fall vorgestellt wurde und dann die Schwankungen ihrer Entscheidungen betrachtet wurden. Ich nenne das Noise-Audits“, sagt Kahneman. „Die Schwankungen waren erschreckend. Für denselben Fall erhielt man Urteile mit einer Spanne von 15 Tagen bis 15 Jahre.“

Die Ergebnisse stammen aus einem Experiment, das vor einigen Jahren mit 208 US-amerikanischen Bundesrichtern durchgeführt wurde. Das durchschnittliche Urteil, das von den Richtern für denselben Fall gefällt wurde, war sieben Jahre. Wenn die Urteile zweier Richter nach dem Zufallsprinzip verglichen wurden, betrug der durchschnittliche Unterschied zwischen diesen vier Jahre.

„Das bedeutet, dass einen Angeklagten vor Gericht ein Lotteriespiel erwartet, und ich würde sagen ein untragbares Lotteriespiel“, meint Kahneman.

Je nachdem, auf welchen Arzt man in der Notaufnahme trifft, können viele verschiedene Dinge passieren.

Doch das Problem geht über den Gerichtssaal hinaus und ist tatsächlich auch in Krankenhäusern und Notaufnahmen verbreitet. Kahneman meint, dass es systematische Unterschiede im Verhalten von Ärzten gibt, abhängig davon, ob sie in der Früh munter und ausgeruht sind oder am späten Nachmittag arbeiten. Am Nachmittag verschreiben Ärzte eher Opioide, vergeben mehr Antibiotika und ordnen mehr Tests an.

„Sie machen das, was leichter ist“, erklärt er. „Und das ist eine Quelle von gelegentlichem Noise, denn als Patient kümmert man sich normalerweise nicht darum, zu welcher Uhrzeit man einen Termin bekommt – ausser man weiss, wann der Arzt in seiner fachlichen Höchstform ist. Es ist jedoch wieder ein Lotteriespiel, wann man einen Termin bekommt. Je nachdem, auf welchen Arzt man in der Notaufnahme trifft, können viele verschiedene Dinge passieren.“

Wie können wir Fehler in unserer Beurteilung erkennen?

Die grundlegende Ursache für Noise sind laut Kahneman die natürlichen Schwankungen des menschlichen Urteils. Während Menschen glauben, dass sie objektive und rationale Entscheidungen treffen, werden ihre Beurteilungen oft von vielen Faktoren, wie der Stimmung, dem Kontext und persönlichen Verzerrungen, beeinflusst. Auf die Frage, ob es möglich ist, Noise zu beseitigen, antwortet Kahneman, dass es prinzipiell möglich ist, aber das Problem dann von einem Beurteilungsproblem zu einem Problem wird, bei dem Entscheidungen von einer Regel oder einem Algorithmus getroffen werden.

„Solange Menschen Urteile treffen, kann man Noise reduzieren, aber nicht beseitigen“, fährt er fort.

Kahneman schlägt jedoch ein paar Strategien zur Abschwächung von Noise vor. Ein Ansatz ist die Standardisierung von Entscheidungsprozessen durch Algorithmen oder Checklisten, welche den Einfluss der individuellen Beurteilung reduzieren. Ein weiterer Ansatz ist die Verwendung von mehreren Richtern oder Gutachtern, um individuelle Schwankungen bei der Beurteilung auszugleichen.

Gibt es eine ideale Strategie für Vorstellungsgespräche?

Was ist zum Beispiel die ideale Art, einen Bewerber einzustellen? Es stellt sich heraus, dass wir die ideale Art bereits kennen“, meint er. „Anstatt ein Interview zu führen, bei dem man die andere Person auf allgemeine Weise verstehen und sich ein Bild von ihr machen möchte, sollte man ganz anders vorgehen. Man sieht sich die relevanten Eigenschaften und die relevanten Dimensionen, über die man etwas erfahren möchte, an. Und dann befragt man die Person einzeln und unabhängig voneinander zu diesen Dimensionen und bewertet diese jeweils. Wenn man mit einem Abschnitt des Interviews fertig ist, bewertet man diese Dimension und geht dann zum nächsten Abschnitt über. Man sollte nicht an die abschliessende Schlussfolgerung denken, wir nennen das ‚die Intuition verzögern‘. Und wir wissen, dass das die ideale Methode für die Bewerberauswahl ist.“

Die Grundidee hierfür ist das sogenannte „Prinzip der Unabhängigkeit“, welches in verschiedenen Szenarien funktioniert. Indem man eine Bewertung unabhängig von den anderen betrachtet, wird die frühzeitige Bildung einer abschliessenden oder allgemeinen Meinung verzögert.

„Es ist wie bei einer Zeugenbefragung zu einem Verbrechen, da möchte man auch nicht, dass diese sich miteinander absprechen“, fügt Kahneman hinzu. „Man möchte mit jedem einzeln sprechen und es ist ihnen nicht erlaubt, miteinander zu kommunizieren. Und der Grund dafür ist, dass man den Informationsgehalt maximieren kann, wenn man verschiedene Aspekte der Information abtrennt. Wenn sich mehrere Personen mit demselben Bewerber befassen, ist das Isolieren der verschiedenen Eigenschaften sehr nützlich für die separate Bewertung von diesen. Die Personen sollen unabhängig voneinander sein. Es gibt viele Unternehmen, die das richtig machen.“

Verschiedene Eigenschaften eines Problems separat zu bewerten, ist sehr nützlich, wenn sich mehrere Personen mit demselben Bewerber befassen.

Kahneman betont ebenfalls die Wichtigkeit von Feedback und Abgleichen, welche Menschen helfen können, sich ihren eigenen Bias und Schwankungen in der Beurteilung bewusster zu werden. Durch die Bereitstellung von Feedback zu ihren eigenen Leistungen können Menschen ihre Entscheidungsprozesse anpassen, um Noise zu reduzieren und die Konsistenz und Verlässlichkeit ihrer Beurteilung zu erhöhen.

Was sind die wirtschaftlichen Kosten von Noise?

Während das Justizbeispiel das Thema Gerechtigkeit besonders hervorhebt, gibt es die Gerechtigkeitsfrage laut Kahneman überall, wo es Noise gibt, und das kann grosse wirtschaftliche Kosten verursachen.

„Selbst bei Versicherungsunternehmen ist es nicht nur unangebracht, sondern auch unfair, wenn man abhängig davon, wer unterzeichnet, eine unterschiedliche Prämie bekommt“, meint er. „Das widerspricht dem Prinzip von Gerechtigkeit. Von einem Unternehmen wird ein einheitlicher Standpunkt erwartet, welcher aber von Noise verfälscht werden kann. Daher erhöht die Reduzierung von Noise die Glaubwürdigkeit.“

„Es steht ausser Frage, dass ein System ohne einheitlichen Standpunkt Noise mit sich bringt und direkt die Genauigkeit der Beurteilungsqualität, die dieses System produziert, beeinträchtigt“, erklärt er weiter.

Laut Kahneman haben Unternehmen eine viel höhere Chance, die Art und Weise, wie sie zu Beurteilungen und Entscheidungen kommen, zu verbessern, als Einzelpersonen. Bei den meisten Unternehmen entwickeln sich die Entscheidungsprozesse mit der Zeit von alleine. Er hofft, dass der Gestaltung von Entscheidungsfindung und Beurteilung mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das ist für Unternehmen leichter möglich, weil hier oft bereits ein standardisierter Ansatz besteht.

„Ich würde sagen, dass der erste Schritt im Umgang mit Noise die Messung davon und die Feststellung der Menge an Noise ist“, sagt Kahneman. „Um Noise zu messen, braucht man nicht die richtige Antwort zu kennen, aber man weiss, dass Meinungsverschiedenheiten zwischen Menschen zu weniger genauen Entscheidungen führen. Das ist daher der erste Schritt. Führen Sie Ihr eigenes Noise-Auditverfahren durch. Denken Sie sich realistische Probleme aus und lassen Sie diese von einigen Personen beurteilen. Dann sehen Sie sich die Schwankungen an und durch diese Schwankungen können Sie erkennen, wie viel Noise in den Beurteilungen liegt.“

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