Der S&P 500 entwickelte sich zu Beginn der Berichtssaison positiv und die Ergebnisberichte für das 1. Quartal fielen besser aus als befürchtet. Die positiven Überraschungen verteilten sich auf breitere Bereiche und waren grösser als in den beiden vorhergehenden Quartalen. Bisher haben rund 80% der Unternehmen im S&P 500 ihre Ergebnisse vorgelegt. Knapp 75% übertrafen die Umsatzprognosen und etwa 77% die Gewinnschätzungen. Insgesamt steuern die Gewinne im S&P 500 nach wie vor, wie von uns prognostiziert, auf einen Rückgang um 1% bis 3% zum Vorjahr im 1. Quartal 2023 zu.


Die Robustheit der Konsumausgaben war das dominierende Thema in den jüngsten Berichten. Angesichts der anhaltenden Rezessionsängste ist dies ein ermutigendes Zeichen. Mega-Cap-Technologieunternehmen wiesen ebenfalls positive Ergebnisse aus. Die Gesamtzahlen täuschen unserer Meinung nach allerdings über einige der zugrunde liegenden negativen Trends bei den Technologieausgaben hinweg. Die Unternehmensleitungen schlugen in den Ausblicken etwas verhaltenere Töne an. Doch die Konsensschätzungen hielten sich besser als in den letzten Quartalen und die Unternehmen rechnen nicht mit einer unmittelbar bevorstehenden Rezession.


Angesichts des verhalteneren, aber immer noch soliden Arbeitsmarktes, der Verbesserung in den Lieferketten, der Kostensenkungen und des schwächeren US-Dollar fielen die Ergebnisse besser aus als befürchtet. Trotzdem halten wir die Konsenserwartung eines Wachstums der Gewinne im S&P 500 um 5% im 2. Halbjahr 2023 immer noch für zu optimistisch. Unserer Ansicht nach sind die Aussichten für die Unternehmensgewinne nach wie vor schwierig. Daher rechnen wir für das Gesamtjahr 2023 mit einem Rückgang der Gewinne um rund 5% zum Vorjahr, während sich die Konsensprognosen nach wie vor auf ein Wachstum von 0% richten. Unsere Einschätzung stützt sich auf folgende Gründe:


Erstens werden die Kreditvergabestandards zunehmend restriktiver. Die Umfrage unter leitenden Kreditvermittlern vom Januar 2023 zeigte, dass unter dem Strich 45% der Banken die Kreditvergabestandards für grosse und mittlere Unternehmen verschärften. Dazu kam es noch vor den jüngsten Turbulenzen im Bankensektor, die sich ebenfalls negativ auf die Kreditvergabe auswirken dürften. Ähnliche Umfrageergebnisse gab es zuvor nur während der Covid-19-Pandemie, der globalen Finanzkrise und beim Platzen der Dotcom-Blase. Wenn die Kreditvergabestandards so streng bleiben oder weiter verschärft werden, wird das Gewinnwachstum unter Druck geraten. Am 8. Mai werden die Ergebnisse der jüngsten Umfrage unter leitenden Kreditvermittlern veröffentlicht. Der Vorsitzende der US-Notenbank Fed, Jerome Powell, der die Daten bereits vor der geldpolitischen Sitzung erhalten hat, erklärte bei der Pressekonferenz nach der Sitzung, dass «diese restriktiveren Kreditkonditionen die Wirtschaftstätigkeit, die Neueinstellungen und die Inflation wahrscheinlich belasten werden».


Zweitens hat die Fed zwar die Möglichkeit einer Pause angedeutet, doch die Geldpolitik wird restriktiv bleiben. Die US-Notenbank hob den Leitzins bei ihrer Sitzung im Mai um 25 Basispunkte auf eine Spanne von 5% bis 5,25% an und machte den Weg für eine Pause im Zinserhöhungszyklus frei. Doch unserer Meinung nach bedeutet eine Pause nicht, dass sich die Fed anschickt, die Zinsen wieder zu senken. Die Inflation ist immer noch zu hoch, die Nachfrage aus dem Privatsektor hält sich recht gut und der Arbeitsmarkt ist nach wie vor eng. Daher erwarten wir, dass die Fed die massgeblichen Datenmeldungen aufmerksam beobachten, sich zurückhalten und die Geldpolitik noch eine ganze Weile unverändert lassen wird. Insgesamt dürften die verzögerten Auswirkungen der bereits umgesetzten Leitzinserhöhungen um insgesamt 500 Basispunkte und der immer noch restriktiven Geldpolitik der Fed eine erneute Beschleunigung des Wirtschafts- und Gewinnwachstums verhindern.


Drittens ist das Rezessionsrisiko nicht unwesentlich. Die Differenz zwischen den Renditen von 10- und 2-jährigen US-Treasuries hat sich seit dem letzten Sommer nachhaltig umgekehrt. Nach allen früheren Fällen einer invertierten Renditekurve in den letzten 50 Jahren war die US-Wirtschaft immer in eine Rezession abgerutscht, wobei der Abschwung etwa 15 Monate nach der Inversion begann. Wenn wir die Entwicklungen der Vergangenheit als Anhaltspunkt nehmen, könnte die Wirtschaftslage später in diesem Jahr schwieriger werden. Bei früheren Rezessionen betrug der Rückgang der Quartalsgewinne je Aktie im S&P 500 vom Höchstwert bis zum Tiefpunkt etwa 16%. Wenn die USA in eine Rezession abrutschen, werden die Gewinne unseres Erachtens darunter leiden, aber in geringerem Umfang.


Somit werden die Belastungen möglicherweise erst später in diesem Jahr einen nachhaltigeren Abwärtsdruck auf die Unternehmensgewinne und Aktienmärkte ausüben. Dennoch haben US-Aktien unseres Erachtens mit erhöhten Bewertungen, einer Fed, die die Zinsen so bald nicht senken dürfte, restriktiveren Kreditkonditionen und Warnsignalen von der Renditekurve zu kämpfen. Nach unseren Schätzungen wird der S&P 500 Ende Juni bei 3900 und Ende 2023 bei 3800 Punkten liegen.


Daher raten wir Anlegerinnen und Anlegern, abseits von US-Aktien zu diversifizieren und neben ausgewählten Chancen in Europa auch Anlagen in Aktien aus Schwellenländern in Erwägung zu ziehen. Letztere dürften von einem schwächeren US-Dollar, steigenden Rohstoffpreisen, einem starken Gewinnwachstum und der über Erwarten kräftigen Erholung in China profitieren.